Wahrheit und Freundschaft
07.03.2022MEINS-Autorin Martina Ehrlich (56) schreibt, wie sie spricht: immer geradeheraus. Doch noch nicht nur das, passt gut zu uns Frauen 50plus. Auch das, was sie erlebt, gleicht unseren Erfahrungen und Gedanken. W
Liebeskummer ist ganz schön anstrengend, nicht nur für die teilnehmenden Parteien. Auch die Co-Betroffenen leiden, z. B. unter Schlafmangel, wunden Ohrmuscheln vom vielen Telefonieren, Sehnenscheidenentzündungen vom Anreichen Hunderter Taschentücher und von zu viel solidarisch mitgetrunkenem Wein. Ich dachte immer, Liebeskummer wäre ein Phänomen, unter dem vor allem junge Leute leiden, so wie Akne oder chronische Selbstüberschätzung. Stimmt aber nicht. Es kann offenbar jeden und jede treffen und manche sogar mehrmals im Jahr. Das wird für die Tröstenden dann zu einer zähen Herausforderung, weil es bei den ständigen emotionalen Wiederholungen schwerfällt, das nötige Mitgefühl zusammenzukratzen. Besonders, wenn man außerdem das Gefühl hat, Teil einer merkwürdigen Inszenierung zu sein, eines Theaterstücks mit dem Titel „60 ist das neue 20“ oder auch „Midlife-was? Wer hat hier ’ne Krise?!“.
Die Hauptdarstellerin ist Ende 50, zwei Kinder, einmal geschieden und im letzten Jahr mindestens dreimal schwer verliebt und wieder getrennt (siehe Absatz eins, „Liebeskummer“). Das allein ist natürlich noch kein Grund für Freunde und Bekannte, sich Sorgen zu machen. Herrje, ist doch schön, wenn sich mal wieder jemand so richtig verknallt! Gewundert hat man sich eher über die langen Haare, die der Protagonistin von einer auf die andere Woche plötzlich wasserfallartig über den Rücken fielen (schönen Gruß an den Extension-Experten), die immer kürzer werdenden Tops, die immer höher werdenden Stilettos, das Tribal-Tattoo am Oberarm und dann das neue Hobby: Kickboxen. Der Trainer ist der Sohn des hiesigen Gebrauchtwagenschiebers, die anderen Vereinsmitglieder fast ausnahmslos Männer, die im Nebenjob Türsteher oder Inkasso-Service-Mitarbeiter sind und die es angeblich total cool finden, dass sich auch mal Frauen in den Ring trauen.
Wie viel Wahrheit verträgt eine Freundschaft?
Und genau an dieser Stelle fängt man dann eben doch an, sich Gedanken zu machen. Aber wie sagt man einer Freundin, dass sie … nun ja … sich irgendwie nicht altersgemäß verhält? Dass sie bedürftiger wirkt, je jünger sie sich macht? Dass sie ihre H & M-Membership-Karte nicht überstrapazieren soll? Dass sie meine Tochter grüßen soll, wenn sie sie nachts im Club trifft, und dass sie vielleicht nicht ganz so viele Selfies mit Entenschnute bei Instagram posten soll?
Die kompliziertere Frage lautet allerdings: Hab’ ich überhaupt das Recht, sie mit der Nase auf ihre Berufsjugendlichkeit zu stoßen, so als wäre sie ein Welpe, der auf den Teppich gepinkelt hat? Ich weiß es nicht. Egal, was ich sage, es wird sie verletzen, und ich glaube, das ist das Letzte, was sie gerade braucht. Wäre sie glücklich und mit sich selbst zufrieden, würde sie diesen ganzen Klimbim doch gar nicht machen. Also halte ich den Mund geschlossen und die Füße still und warte auf den nächsten nächtlichen Liebeskummer-Anfall. Wein steht kalt, und Taschentücher liegen bereit. Mehr kann ich im Augenblick einfach nicht für sie tun.
So, und nun seid ihr gefragt: Was denkt ihr über Martinas Worte? Was würdet ihr ihr raten? Und habt ihr ähnliche Situationen durchlebt?